AMK / Eine Apotheke meldete bei drei Patienten Anzeichen und Symptome
einer Atropin-Intoxikation nach der Einnahme einer homöopathischen
Rezeptur.
So traten bei einem 56-jährigen Mann etwa 15 Minuten
nach der einmaligen Einnahme von 30 Tropfen einer in der Apotheke
hergestellten homöopathischen Lösung Geschmacks- und Sehstörungen sowie
Benommenheit auf. Im Krankenhaus wurde er wegen erweiterter Pupillen des
Drogenkonsums verdächtigt. Eine Blutanalyse ergab eine Konzentration
von 18 ng Atropin/ml; der zeitliche Abstand zwischen der Einnahme und
der Blutentnahme ist leider nicht bekannt. Der therapeutische
Plasmakonzentrationsbereich von Atropin beträgt 2 bis 25 ng/ml (eine
Konzentration von 20 bis 25 ng/ml wird nur nach wiederholter i.v.-Gabe
von Atropin zur Behandlung einer Organophosphatintoxikation unter
Beobachtung der klinischen Symptomatik erreicht) (1).
Bei einem
62-jährigen Patienten traten 10 bis 15 Minuten nach der einmaligen
Einnahme von 30 Tropfen Unwohlsein und eine undeutliche Aussprache auf;
er stürzte. Der von der Frau des Patienten verständigte Notarzt stellte
erweiterte Pupillen fest und erkundigte sich nach einem Alkoholkonsum.
Später berichtete derselbe Apotheker über eine 76-jährige Patientin,
die zweimal im Abstand von vier Tagen jeweils kurz nach der Einnahme von
30 Tropfen unter Schwindel und einem trockenen Mund litt und jeweils
stationär behandelt werden musste. Nach der ersten Einnahme stellte der
Notarzt zudem Bluthochdruck und Verwirrtheit fest.
Die oben
berichteten Nebenwirkungen stehen im engen zeitlichen Zusammenhang mit
der Einnahme einer individuell hergestellten, Atropin-haltigen,
homöopathischen Mischung. Die Nebenwirkungen besserten sich jeweils 1-2
Tage nach Abbruch der Einnahme. In einem Fall wurden die Nebenwirkungen
nach Reexposition erneut beobachtet. Eine vierte Patientin konnte vor
der Einnahme der Rezeptur gewarnt werden.
Die homöopathischen
Rezepturen stellte die Apotheke auf Verordnung einer Heilpraktikerin
her. Hierzu verdünnte die Apotheke zunächst eine bestellte Atropinum
sulfuricum D4-Dilution im Verhältnis 1:10 (M/M). Die verdünnte Lösung
(D5-Dilution, „Spasmon“) wurde dann patientenindividuell mit drei
anderen, gebrauchsfertigen Homöopathika gemischt, wobei der Anteil der
D5-Dilution jeweils 50 % (M/M) betrug.
Aufgrund der Symptomatik
hatte die Apotheke den Verdacht eines Qualitätsmangels der bestellten
Atropin-haltigen D4-Dilution und nahm Kontakt mit der Firma auf. Diese
argumentierte für die einwandfreie Qualität ihres Produktes.
Die
„Spasmon“-Mischung und die drei eingenommenen Rezepturen konnten
bezüglich des Atropinsulfat-Gehalts mit einer semiquantitativen
HPLC-UV-MS-Methode vom Zentrallaboratorium Deutscher Apotheker (ZL e.
V.) untersucht werden. Laut den ZL-Befunden enthielt die D5-Mischung
einen Gehalt von 7,69 mg/g Atropinsulfat. Die Rezepturen wiesen
erwartungsgemäß einen um ca. 50 % verminderten Gehalt gegenüber der
„Spasmon“-Lösung auf: 3,52 – 4,07 mg/g. Insgesamt jedoch war der
Atropin-Gehalt in allen untersuchten Lösungen um bis zu Faktor 800 zu
hoch.
Die Bewertung der Herstellungsdokumentation der Apotheke
in Zusammenschau mit den Laborbefunden durch die AMK ergab, dass die
Herstellungsschritte der Apotheke nicht zu der festgestellten
Gehaltsabweichung hätten beitragen können; zumal der letzte Schritt zur
Herstellung der gebrauchsfertigen Lösung aufgrund der Analytik
nachweislich korrekt war.
Nach Übermittlung der Argumentation
der AMK wurde die Firma erneut aufgefordert, den Sachverhalt aufzuklären
sowie korrektive und präventive Maßnahmen zu ergreifen. Nun wurde
firmenseitig eine Verwechslung der D4-Dilution mit der Urtinktur nach
einer Kontrolle der Lagerbestände an Urtinktur und Dilutionen
festgestellt. Die Apotheke hatte somit anstelle der D4-Dilution die
Urtinktur zur Herstellung der Rezepturen genutzt, ohne dies zu wissen,
da die Flasche fehlerhaft deklariert war. Aufgrund der verwendeten
Urtinktur müssten die gefundenen Gehalte rechnerisch sogar um den Faktor
1000 höher liegen. Die gefundenen Faktoren von bis zu 800 lassen sich
aufgrund methodischer Unterschiede sowie dem Vorliegen komplexer
Gemische erklären.
Zur Ermittlung der Einzeldosis bestimmte das
ZL e. V. auf Bitte der AMK zudem das Gewicht der aus den
sichergestellten Flaschen abgegebenen Tropfen: Die Patienten nahmen
zwischen 2,7 und 4,6 mg Atropinsulfat pro Dosis ein. Auch aus
pharmakologisch-toxikologischer Sicht waren nun die geschilderten
Nebenwirkungen plausibel: Ab einer Dosis von 1 mg peroral verabreichtem
Atropinsulfat können Durstgefühl, erhöhte Körpertemperatur,
Herzfrequenzsteigerung nach initialer Bradykardie, milde
Arrhythmieformen (Episoden von AV-Dissoziation, Knotenrhythmus),
beginnende Dilatation der Pupillen, Verlust der Akkommodation,
Lichtscheue und Zunahme des Augendruckes auftreten (2). Bei Anwendung
höherer Dosen verstärken sich diese Effekte und es treten zentralnervöse
Reaktionen wie Schwindel, Gangunsicherheit, Unruhe, Verwirrtheit und
Erregung auf.
Bei der Herstellung von homöopathischen
Atropinsulfat-Lösungen ist eine Gehaltsbestimmung laut Homöopathischem
Arzneibuch nur für die Urtinktur bzw. D1-Dilution vorgesehen (3). Daher
hat die Firma die D4-Dilution auch nicht bezüglich des Gehalts
untersucht (4). Dieses Vorgehen ist in Anbetracht des hier genannten
Risikos für Atropin-Intoxikationen aus Sicht der AMK abzulehnen. Dies
gilt auch für andere potenziell toxische Urtinkturen.
ApothekerInnen, die Atropin-haltige Homöopathika beziehen und
weiterverarbeiten, sollten sich im Sinne des vorbeugenden
Patientenschutzes den Atropin-Gehalt von der Firma durch
Analysezertifikate bestätigen lassen. Zwischenzeitlich erscheint es
zudem ratsam, im Rahmen der Apothekenpraxis eine eigene Analytik zu
etablieren. Hierzu hat das ZL e. V. eine Hilfestellung entwickelt.
Die AMK bittet um Meldung, wenn unter Einnahme von individuell
hergestellten Homöopathika, die potenziell toxische Urtinkturen
enthalten, Nebenwirkungen beobachtet werden. /
Quellen
1)
Schulz M. et al.; Revisited: Therapeutic and toxic blood concentrations
of more than 1100 drugs and other xenobiotics. Crit Care 2020; 24: 195.
2) Streuli Pharma AG; Fachinformation zu Bellafit® N, Stand: Februar 2010.
3) HAB 2009, Monographie Atropinum sulfuricum
4) Stellungnahme, Firma an AMK (E-Mail-Korrespondenz); AW: DE-AMK-[…]_ATROPINUM SULFURICUM D 4. (5. Februar 2021)